Ruhig und beinahe lautlos musste die Lok ihre Wagen aus dem Geflecht der Gleise gezogen haben, die dicht beieinander lagen, sich lösten, um sich bald darauf wieder aneinander zu schmiegen. Beinahe unbemerkt waren sie verschwunden, das schwere Gefährt beschleunigte schnell, hatte bald sein Tempo erreicht, war auf Kurs. Und vielmehr war ich es, die in ihm verschwand.
In dieser Art nahm ich meinen Weg Abend für Abend, es war der einzig mögliche Abschied, und doch war ein Abschied unmöglich. Vor Augen nicht eine Stadt, die mich erwartete und nicht den, der am Bahnsteig stand, winkend zum Gruß. Vor Augen noch rostige Splitter, die in der Sonne glänzten: Ölig schimmernd erinnerten sie an Schuppen von Schlangen, wie sie in wärmeren Zonen verstreut in der Dämmerung liegen.
_kamame_ - 19. Jul, 20:36
Mit der Sonne ging ich, längst nicht mehr mit dem Mond. Heute Morgen zum Beispiel war ich die rot gestreifte Katze, der kleinere, dünnere Tiger, der an jedem anderen Tag vom Dachspann eines von meinem nicht weit entfernten Hauses zum nächsten und übernächsten über die Rinnen streifte und weiter, dabei sich kaum zu erkennen gab. Heute Morgen, die Sonne zog sich längst den Himmel hinauf, ging also ich die Strecke der rot gestreiften Katze. Ich trug meinen Körper auf langen Gliedern erhoben, ich flog, mehr als ich sprang, doch aufrecht und sicher mein Gang: Ich zog geschmeidig entlang auf der Fläche der Dinge, sehr nah an den Rändern und ohne zu fallen. Kein Ziel stand in Aussicht, keine Augenpaar, das auf mir ruhte. Unten die Fremden, Passierende ohne Namen, von denen nicht einer zu bleiben gedachte. Und doch war es ein guter Tag für Wunder, also verriet ich etwas, den einen zu halten, hier: im Flüsterton, leise, noch leiser und als die Sonne die Mitte des Himmels passierte, war mein Geheimnis verloren.
_kamame_ - 19. Jul, 20:23
Später: Der Zug fuhr nicht schnell genug, dass die Bäume, Felder und Häuser hinter dem Glas in Schlieren verliefen, sich in den vorgegebenen schwarz gummierten Rahmen fügten als fadiges Bild, wie es jedem zu wünschen ist, der diese Art des Vorankommens wählt:
Drinnen der eigene Körper, beschleunigt, draußen fest stehend, die Welt, dazwischen, mit flinker Nadel gewoben von links nach rechts, von links nach rechts gespannt: Ein Bild. Von dieser oder jener Seite aus betrachtet: Nur ein Abbild vom wahren Bestand.
Ich kannte die Grenze, die sich zu erkennen gegeben hätte in jenem Moment, ich kannte die Schwelle, vom Glas der Scheibe markiert. Es half nicht, an den Zeigern der Uhr die Zeit, an der Zeit den Weg ab zu rechnen, die Orte gingen von meinen Füßen unberührt, also nicht wirklich vorüber. So in Bewegung war dem aufkommenden Bedauern abzuschwören, jenem den Wogen des Meeres gleichen Bedauern, abflachend und immer wieder ausbrechend, über den Spiegel sich hebend.
_kamame_ - 19. Jul, 20:23
In diesen Nächten wälzte ich mich, geriet von einem Traum in den nächsten, all meine Leben durchstreifte ich als Passant. Ich sah mich wie in einem Film, der vorüberzieht im sicheren Abstand von Leinwand zum Auge, von Leben zu Leben oder Geschichte, nur ausschnittweise nahm ich selbst einen Platz darin ein, ging an den Ort der Handlung zurück.
Am Morgen trat ich vor die Tür noch vor dem Erhellen des Himmels, noch bevor das Licht die Erde begehbar machte. Eine Entscheidung zu treffen lag in keinem Moment dieser Geschichte bei mir. Ich mahnte mich zur Geduld, ordnete meinem Körper Ruhe an, Reglosigkeit, doch gelang es mir nicht, alle beweglichen Teile auf einmal in Stille zu wahren. Immerzu hielt ich meine Finger auf Trab, ich sortierte Schubladen, Kisten, Schrankfächer aus und ein und aus, ich drehte Tabak in Papierchen und rauchte und drehte und rauchte. Ich lief die Straße hinunter als wäre ich auf der Suche nach etwas und wieder herauf, meine Zehen fanden auf jeder Fläche in einen neuen Takt. Saß ich einmal, zurück gekehrt in den Raum, der als mein zu Hause sich nicht mehr zu erkennen gab, lief ich zum Fenster und zurück zu meinem Stuhl, zum Bad und zurück zu meinem Stuhl, zur Tür und zurück, bis das Geräusch des Telefons diesen Ablauf für kurze Zeit unterbrach.
_kamame_ - 19. Jul, 20:21
Ich habe den Regen herbeigewünscht, das Aufbrechen des Himmels, den Widerhall des Geräuschs aufeinandertreffender Massen von Luft im eigenen Mark. Ich habe Entladung gewünscht, ein bebendes Tosen, ein Lauten, ein Toben, dem ich mich ergeben konnte, in dass ich einstimmen würde, unbemerkt von den anderen, unbemerkt von mir selbst.
Mit meiner Aufmerksamkeit hatte ich in Besitz genommen, mit nichts sonst. Mit meinen eigenen Füßen beigetragen zur Erhitzung der Erde, mit meinen Schritten beschleunigte ich das Herannahen des Sturms. Kein Aufatmen, kein Raum der sich auftat zum Ablegen der Körper, zum Ruhen.
_kamame_ - 19. Jul, 20:19
Jetzt war es Zeit, dass jemand die Bühne betrat, dem es gelang die Aufmerksamkeit der Anwesenden an sich zu nehmen mit einem einzigen Schritt, einem Wort. Doch keine Gestalt verließ ihren Weg, hielt inne oder erhob sich aus dem wogenden Ganzen, keine Stimme entkam dem bodennahen Säuseln, jede für sich ein kleiner Strudel unter der Oberfläche des Wassers.
Nein, es war nichts, nichts war geschehen. Kaum mehr als der ein oder andere Blick, der über einer beliebigen Straße sich niederlegte in einem anderen. Kaum mehr als das ein oder andere Wort, das sich im Mund irrte; ein Satz, der mit anderer Stimme schon einmal gesagt, Verwandtschaft verriet.
_kamame_ - 19. Jul, 20:18
Vielleicht waren es die Wolken, die uns so handzahm machten, die tief hängenden und an den unteren Rändern ins Dunkelste sich färbenden Wolken: Ein Grau, gerade genug entfernt vom Schwarz, sich zu unterscheiden. Und selbst das gelang nicht: Die Spitzen der Dächer, der Bäume: Sie gaben klare Konturen vor, doch verschwamm alles darunter zu einem Ganzen. Es gelang mir nicht, die Körper voneinander getrennt zu begreifen: Nicht meinen Augen, nicht meinen Händen. Das Tatsächliche lag in einer einzigen Fläche, als läge es auf einer Leinwand, stünde geschrieben als Geschichte: Ein Text, der vom Anfang zum Ende verläuft; Sätze, die sich Linien fügen, welche sie Zeile für Zeile sich selbst erschaffen, ein Raum, der sich erst im eigenen Raum ergibt.
Und wie die an Boden sich schmiegenden Körper liegen blieben, als sich längst ihr Gewicht verraten hatte und damit die Drohung, was ausbleiben würde, was kommt. Und dass dieser Himmel anders als sonst weit vor dem Horizont den Abstand zur Erde verloren hatte, ich weiß.
_kamame_ - 19. Jul, 20:17