Sie sagte, die Stille sei ein Geräusch und ich dachte daran, wie weit unsere Wortlosigkeit von der Starre des Schweigens entfernt lag, einer Starre, die jede Bewegung verhindert, selbst das Schlucken, das Heben des Brustkorbs zum Atmen oder dem Verschieben der Füße unter dem Stuhl.
Sie sprach von Abschied und Rückkehr, sie sprach in Jahrszeiten und Gewichtsklassen für Gepäck, von Fahrtzeit in Bahnen und Preisen von Flügen, Besuch. Sie sprach von Städten, deren Namen ich nicht aussprechen, noch erinnern kann und deren Lage ich nur ahnte.
Sie sagte, die Stille sei ein dunkles, volles Geräusch, ähnlich dem Klang einer riesigen Glocke aus weiter Entfernung, rot wie die Sonne am Abend, warm wie ein Stein der trocknet und hell wird in ihrem Licht.
_kamame_ - 19. Sep, 22:44
Freitags fahren wir raus aufs Land, wir fahren zum Einatmen, Ausatmen, Auftanken, wir – flüchten. Wir setzen uns in kleine blaue Autos und nennen sie Fluchtautos später, lachend. Hundert, zweihundert, dreihundert Kilometer nach Norden, Westen, Süden, dann zurück, zurück immer erst sonntags, manchmal auch montags.
Montag bis Freitagmittag ist keine gute Zeit zu leben, die sollte man streichen, an Wochentagen Lebenszeit sparen. Wir sehnen uns dann nach den einfachen Leuten, den wenigen Worten, dem langsamen Atmen. Montag bis Freitagmittag gehen wir manchmal, nicht häufig, doch manchmal, hinaus und wir gehen nicht eilig, wir gehen ohne Gesellschaft, Telefon, Ziel.
_kamame_ - 19. Sep, 22:26
Wo du bist, schlägt eine andere Zeit. Alle paar Tage Kurznachrichten mit Koordinaten: Städtenamen, Tischgesellschaft, Wegmaß in Meilen und Wetterlage in Fahrenheit: Der Singsang betender Inder am Tisch gegenüber, dazu das Schrammeln von Klampfen aus Radiosendern, im Westen nichts Neues als Regen, Regen in San Francisco nach Tagen der Dürre, Tagen in Wüsten, in alles zersetzender Hitze.
_kamame_ - 19. Sep, 22:14
Hörst du das, hörst du das, halt dich nur fest mit den Füßen am Boden, binde die Haut an Gestein oder kralle die Zehen tief in die Erde, halt dich nur wie auch immer am Boden und höre das Rasen, das Beben, die eigene Hast.
Drinnen ist eben noch Stille gewesen, im Drehen der Hand auf dem Tisch erst stand es geschrieben, auch in den Schritten, den Sätzen, den Blicken, was willst du noch wissen als das. Halt dich nur fest mit den Füßen am Boden, binde im Herzrausch die Haut an Gestein.
_kamame_ - 19. Sep, 21:55
Kaum hatten wir Ort und Zeit verlassen, gelangten wir zueinander, zurück. Es galt, sich auseinanderzusetzen, bis alles in Teilen liegen würde, die hin und her geschoben und über den Rand, sich in ein neues Bild fügten wie von allein.
_kamame_ - 2. Sep, 08:35
Da hast du: zwei Hände voll Menschen, die dich willkommen heißen in einer Stadt, die immer noch deine Stadt ist, zum Abschied. Da hast du: ein paar schöne Stunden, da hast du noch etwas, das schwer fällt zu geben, für all das was kommt, du kennst es nicht.
Da hast du alles in Kisten, in Säcken verstaut, auseinander montiert. Alles bereit von Fremden getragen zu werden, von einem zum anderen Ort, alles zu einem einzigen Preis, vorbei ist vorbei. Jetzt ist es keine Frage mehr oder nur die von Stunden, von Tagen, du zählst sie an Händen.
Da sitzt du, allein in der Stadt, in der das Alleinsein niemals, niemals Einsamkeit war. Im Radio senden sie nachtlang und dann denkst du mal was andres als immer nur an den einen, denn das immer an ihn denken bekommt dir nicht. Und du flüchtest zurück in die Zeichen, wohin, ja wohin auch sonst.
_kamame_ - 28. Jul, 00:56
und Duft von ichweißnichtwas, Räucherware vielleicht oder ein gutes Öl, vermischt mit leiser Musik. Ich trage Leinen: Breite beige Hosen zum Binden unter dem Bauch, darüber ein weißes Shirt, beides onesize. Sobald ich es spüre auf meiner Haut, gehe ich gern mit ihr.
In Thailand habe sie gelernt, ob ich es kenne: die Berge, das Meer und die Städte, die Städte wie hier: wirklich, nicht anders. Aber die Berge!, dort habe sie niemals gelebt, komme nur an und gehe gleich einem Tourist, sie reise mit Rucksack und Sohn von einer Hütte zur nächsten, weitab von Hotels. Elf Stunden ginge der Flug und ihr Sohn liebe das Angeln, es sei erlaubt dort wie vieles. In Bankok würden die Flugzeuge landen, immer, von dort aus fahre sie weiter, Familie warte nicht. Es ginge ihr nur um die Farbe des Meeres, Si Racha, Sattahib und vor allem die kleineren Orte dahinter, ich müsse sie sehen, einmal später solle ich hin.
Die schöne kleine Frau verschwand aus dem Raum und erschien in der Tür in einem einzigen kurzen Atemzug, ich hatte die Augen nicht geschlossen dazwischen, so schnell. Ein Bildband war es, den sie brachte und endlich, so schien es, konnte sie reden von einem Land, welches ihr Land bleiben würde, Königreich immer.
_kamame_ - 25. Jul, 21:23
Erst das Ankommen an einem anderen Ort markiert die Schwelle zur folgenden Zeit. Immerhin gibt es ihn jetzt: der Ort ist kein beliebiger mehr nach dem ich suche in einem berechneten, kaum begangenen Areal, nur zufällig dort zu finden. Der Ort ist Punkt geworden, Koordinate bestehend aus Name und Nummer der Straße, ist Ziel.
Auf dem Weg wird es nötig sein, was mir begegnet zu raffen, um es zu erfassen, das Innere vom Äußeren nicht zu unterscheiden. Später, viel später erst wird es gelingen die leichten Verschiebungen wieder zu spüren am Takt meines Atems, am Klang der eigenen Stimme, am Schritt; die Dinge in Schemen wahr zu nehmen, das Wesen von ihrer Gestalt entrückt.
_kamame_ - 24. Jul, 22:14
Jeden Tag Schritte: jeden Morgen müde aufwachen und beginnen, das Mögliche zu schaffen und jeden Tag möglichst ein wenig mehr als das. Nicht ausschlafen, keine Zeit verlieren, nach sechs Stunden klingelt der Wecker, sechs Stunden reichen für Schlaf aus und dann gleich aufstehen, nicht wieder umdrehen.
Und möglichst nicht stehen bleiben, nicht stolpern, nicht fallen. Und wenn doch, dann wieder aufstehen, möglichst schnell, dass es niemand bemerkt, dass ich selbst es nicht merke, sofort verbuchen kann als Vorstellung: bloße Angst.
Und immer einen zweiten Plan in der Tasche haben, immer bereit sein, alles doch noch und zwar ganz anders zu machen, aber möglichst nicht zuviel machen, immer nur gerade ein wenig mehr als das Mögliche, gleich mindeste Soll.
Und auch: hinaus gehen, mit den Füßen gehen, den Wegen im Kopf zum Ausgleich. In der Eile vor allem: nicht den Weg vergessen, immer eine Vorstellung haben vom Draufblick, immer wissen, was rechts liegt, was links, welches der nächste Schritt sein muss - und erst in der Bewegung selbst sagen können: ist.
_kamame_ - 24. Jul, 20:17
Jetzt wird es wirklich. An einer Wand lehnen Kisten, noch Flächen: große Quadrate aus Pappe, gefalzt. In zählbar wenigen Tagen werden sie räumlich. Davor ist zu sagen, was hier bleibt, bald nicht mehr zu mir gehört. Und einer, es bleibt ihn zu suchen, wird tragen, was mit soll.
Jetzt gibt es täglich neues Papier: Verträge, Rechnungen, Briefe. Auch Luftpost und welche durch Leitungen, Glasfasern, schnell. Und schnell muss es gehen, die Listen liegen parat: Bei wem ist der Wechsel zu melden, wen muss ich noch treffen, welche Kopie geht an welche Adresse. Jeden Tag wachsen die Listen, noch streiche ich nicht.
Jetzt hat noch nicht begonnen und ist nicht vorbei. Hier stehe ich zwischen den Städten im Flur, kenne kaum mehr als Namen und Nummern auf Schildern von Türen.
_kamame_ - 22. Jul, 21:10
Ruhig und beinahe lautlos musste die Lok ihre Wagen aus dem Geflecht der Gleise gezogen haben, die dicht beieinander lagen, sich lösten, um sich bald darauf wieder aneinander zu schmiegen. Beinahe unbemerkt waren sie verschwunden, das schwere Gefährt beschleunigte schnell, hatte bald sein Tempo erreicht, war auf Kurs. Und vielmehr war ich es, die in ihm verschwand.
In dieser Art nahm ich meinen Weg Abend für Abend, es war der einzig mögliche Abschied, und doch war ein Abschied unmöglich. Vor Augen nicht eine Stadt, die mich erwartete und nicht den, der am Bahnsteig stand, winkend zum Gruß. Vor Augen noch rostige Splitter, die in der Sonne glänzten: Ölig schimmernd erinnerten sie an Schuppen von Schlangen, wie sie in wärmeren Zonen verstreut in der Dämmerung liegen.
_kamame_ - 19. Jul, 20:36
Später: Der Zug fuhr nicht schnell genug, dass die Bäume, Felder und Häuser hinter dem Glas in Schlieren verliefen, sich in den vorgegebenen schwarz gummierten Rahmen fügten als fadiges Bild, wie es jedem zu wünschen ist, der diese Art des Vorankommens wählt:
Drinnen der eigene Körper, beschleunigt, draußen fest stehend, die Welt, dazwischen, mit flinker Nadel gewoben von links nach rechts, von links nach rechts gespannt: Ein Bild. Von dieser oder jener Seite aus betrachtet: Nur ein Abbild vom wahren Bestand.
Ich kannte die Grenze, die sich zu erkennen gegeben hätte in jenem Moment, ich kannte die Schwelle, vom Glas der Scheibe markiert. Es half nicht, an den Zeigern der Uhr die Zeit, an der Zeit den Weg ab zu rechnen, die Orte gingen von meinen Füßen unberührt, also nicht wirklich vorüber. So in Bewegung war dem aufkommenden Bedauern abzuschwören, jenem den Wogen des Meeres gleichen Bedauern, abflachend und immer wieder ausbrechend, über den Spiegel sich hebend.
_kamame_ - 19. Jul, 20:23
Mit der Sonne ging ich, längst nicht mehr mit dem Mond. Heute Morgen zum Beispiel war ich die rot gestreifte Katze, der kleinere, dünnere Tiger, der an jedem anderen Tag vom Dachspann eines von meinem nicht weit entfernten Hauses zum nächsten und übernächsten über die Rinnen streifte und weiter, dabei sich kaum zu erkennen gab. Heute Morgen, die Sonne zog sich längst den Himmel hinauf, ging also ich die Strecke der rot gestreiften Katze. Ich trug meinen Körper auf langen Gliedern erhoben, ich flog, mehr als ich sprang, doch aufrecht und sicher mein Gang: Ich zog geschmeidig entlang auf der Fläche der Dinge, sehr nah an den Rändern und ohne zu fallen. Kein Ziel stand in Aussicht, keine Augenpaar, das auf mir ruhte. Unten die Fremden, Passierende ohne Namen, von denen nicht einer zu bleiben gedachte. Und doch war es ein guter Tag für Wunder, also verriet ich etwas, den einen zu halten, hier: im Flüsterton, leise, noch leiser und als die Sonne die Mitte des Himmels passierte, war mein Geheimnis verloren.
_kamame_ - 19. Jul, 20:23
In diesen Nächten wälzte ich mich, geriet von einem Traum in den nächsten, all meine Leben durchstreifte ich als Passant. Ich sah mich wie in einem Film, der vorüberzieht im sicheren Abstand von Leinwand zum Auge, von Leben zu Leben oder Geschichte, nur ausschnittweise nahm ich selbst einen Platz darin ein, ging an den Ort der Handlung zurück.
Am Morgen trat ich vor die Tür noch vor dem Erhellen des Himmels, noch bevor das Licht die Erde begehbar machte. Eine Entscheidung zu treffen lag in keinem Moment dieser Geschichte bei mir. Ich mahnte mich zur Geduld, ordnete meinem Körper Ruhe an, Reglosigkeit, doch gelang es mir nicht, alle beweglichen Teile auf einmal in Stille zu wahren. Immerzu hielt ich meine Finger auf Trab, ich sortierte Schubladen, Kisten, Schrankfächer aus und ein und aus, ich drehte Tabak in Papierchen und rauchte und drehte und rauchte. Ich lief die Straße hinunter als wäre ich auf der Suche nach etwas und wieder herauf, meine Zehen fanden auf jeder Fläche in einen neuen Takt. Saß ich einmal, zurück gekehrt in den Raum, der als mein zu Hause sich nicht mehr zu erkennen gab, lief ich zum Fenster und zurück zu meinem Stuhl, zum Bad und zurück zu meinem Stuhl, zur Tür und zurück, bis das Geräusch des Telefons diesen Ablauf für kurze Zeit unterbrach.
_kamame_ - 19. Jul, 20:21
Ich habe den Regen herbeigewünscht, das Aufbrechen des Himmels, den Widerhall des Geräuschs aufeinandertreffender Massen von Luft im eigenen Mark. Ich habe Entladung gewünscht, ein bebendes Tosen, ein Lauten, ein Toben, dem ich mich ergeben konnte, in dass ich einstimmen würde, unbemerkt von den anderen, unbemerkt von mir selbst.
Mit meiner Aufmerksamkeit hatte ich in Besitz genommen, mit nichts sonst. Mit meinen eigenen Füßen beigetragen zur Erhitzung der Erde, mit meinen Schritten beschleunigte ich das Herannahen des Sturms. Kein Aufatmen, kein Raum der sich auftat zum Ablegen der Körper, zum Ruhen.
_kamame_ - 19. Jul, 20:19
Jetzt war es Zeit, dass jemand die Bühne betrat, dem es gelang die Aufmerksamkeit der Anwesenden an sich zu nehmen mit einem einzigen Schritt, einem Wort. Doch keine Gestalt verließ ihren Weg, hielt inne oder erhob sich aus dem wogenden Ganzen, keine Stimme entkam dem bodennahen Säuseln, jede für sich ein kleiner Strudel unter der Oberfläche des Wassers.
Nein, es war nichts, nichts war geschehen. Kaum mehr als der ein oder andere Blick, der über einer beliebigen Straße sich niederlegte in einem anderen. Kaum mehr als das ein oder andere Wort, das sich im Mund irrte; ein Satz, der mit anderer Stimme schon einmal gesagt, Verwandtschaft verriet.
_kamame_ - 19. Jul, 20:18
Vielleicht waren es die Wolken, die uns so handzahm machten, die tief hängenden und an den unteren Rändern ins Dunkelste sich färbenden Wolken: Ein Grau, gerade genug entfernt vom Schwarz, sich zu unterscheiden. Und selbst das gelang nicht: Die Spitzen der Dächer, der Bäume: Sie gaben klare Konturen vor, doch verschwamm alles darunter zu einem Ganzen. Es gelang mir nicht, die Körper voneinander getrennt zu begreifen: Nicht meinen Augen, nicht meinen Händen. Das Tatsächliche lag in einer einzigen Fläche, als läge es auf einer Leinwand, stünde geschrieben als Geschichte: Ein Text, der vom Anfang zum Ende verläuft; Sätze, die sich Linien fügen, welche sie Zeile für Zeile sich selbst erschaffen, ein Raum, der sich erst im eigenen Raum ergibt.
Und wie die an Boden sich schmiegenden Körper liegen blieben, als sich längst ihr Gewicht verraten hatte und damit die Drohung, was ausbleiben würde, was kommt. Und dass dieser Himmel anders als sonst weit vor dem Horizont den Abstand zur Erde verloren hatte, ich weiß.
_kamame_ - 19. Jul, 20:17